Wie Marlene Dietrich entdeckt wurde
Liebe zu Kästner – Als Kokette bestellt – Es liegt in der Luft – Der Unterwelt-Regisseur – Kampf um den Blauen Engel

Von Manfred George

Eines jener großen Ereignisse, das einem Sprichwort zuliebe seine Schatten voraus wirft, ist das Gastspiel Marlene Dietrichs in der Bundesrepublik Deutschland: am 2., 3. und 4. Mai in Berlin, am 7. Mai in Hamburg. Der nachfolgende Artikel stammt aus dem ersten Buch über Marlene Dietrich, das der heute in den Vereinigten Staaten lebende Schriftsteller und Journalist Manfred George vor dreißig Jahren bei Ralph Hoegner (Wien und Berlin) erscheinen ließ. Es ist heute eine kleine Seltenheit: in einigen Bibliotheken von Theater- und Filmliebhabern und sonst nirgends aufzutreiben. Die Schilderung ist authentisch und beruht auf den damaligen Gesprächen des Autors mit Marlene Dietrich, die zu dem Buch („Marlene Dietrich – eine Eroberung der Welt in sechs Monaten“) ein Vorwort geschrieben hatte.

Hinter allen Masken trifft man jeden Menschen am raschesten und sichersten, wenn man nach den Büchern fragt, die er liebt. Die Dietrich liebt: Hamsun, Rilke, von Dostojewskij Prosa wie „Die Sanfte“, Mechtilde Lichnowsky, Polgar vor allem und dann einen Mann, dessen Gedichtbücher sie paketweise nach Hollywood schaffen ließ, mit dem sie Hollywood sozusagen verseuchte: Erich Kästner. Kästner, diesen scharfäugigen und schlagfertigen, aktiven Lyriker von heute, dem bei allem leichten Angebittertsein der Schnaps dieses Lebens doch schmeckt.

Der Dichter aber, der an allem schuld war, ist Hugo von Hofmannsthal. Eigentlich wollte Marlene Musik treiben. Sie studierte schon in Weimar, aber da gab es gewisse Komplikationen mit einem überspielten Handgelenk. Und dann las sie eines Tages „Tor und Tod“.

Sie las die Rolle des Mädchens laut. Und es schien ihr, als müsste man diese Verse nicht bloß im leeren Zimmer sagen, sondern dort, wo es auch andere hörten. Hofmannsthal hatte wohl doch an das Theater gedacht?

Die Schauspielschule des Deutschen Theaters lag in der Schumannstraße. Es war ein Tag der Prüfung. Die Prüfung war beinahe schon zu Ende. Ein Herr, dessen Gesicht ein wilder Urwald war, kam die Treppe herunter. Er sah in der Eingangstür ein junges Mädchen lehnen, schülerhaft fast, mit lichtblondem Zopf, ein Buch unter dem Arm. Der Urwald blieb stehen und ließ sich wie folgt vernehmen:

„Was wollen denn Sie hier?“
„Ich möchte mich prüfen lassen.“
„Wer hat Sie denn her empfohlen?“
„Ich hab’ doch gar keine Verbindungen.“
„Na, dann gehen Sie mal rauf und sagen Sie, Sie kämen von Herrn Kahane, Ka-ha-ne – werden Sie sich das merken?“

Oben im Saal standen Berthold Held und Albert Heine. (Die sind beide heute nun auch schon tot). Der Name des Dramaturgen genügt ihnen natürlich. Marlene musste, sich an einen Türpfosten stellen und da sprach sie, fast ohne sich zu rühren, die Rolle des „Mädchens“.

Held schnupperte erstaunt in die Luft, Heine vergrub die Hände in die Hosentaschen und raunte ihm zu: „Nehmen. Große Klasse.“ Aber Held war das Ganze noch zu lyrisch, und da Marlene vorläufig nicht begriff, wie man sich plötzlich unter Tränen auf die Erde schmeißen konnte, musste sie zu dem Sprachmeister Daniel. Der brachte es ihr in seinem Unterricht schließlich bei, dass sie sich vor einem Lehnstuhl kniend wie Gretchen in der Kirche fühlte.

So wurde Marlene Dietrich Schauspielerin.

Eine Schauspielerin, die man heran lässt und wieder abstößt, die Jahre verbringt zwischen Warten und Hoffen. Dann wieder eine kleine Rolle. Aber alles bleibt letzten Endes in ihr abgelöst. Sie erfüllt tapfer ihre Pflicht. Doch die Sehnsucht nach dem, was kommen soll und muss, erfüllt sich nicht. Sie trägt sie wie ein Geheimnis mit sich herum. Hübsch ist sie. Das sehen die Leute auch. Aber sie befreien das Gesicht nicht aus seiner Maske zur Individualität. Sie weisen eher auf die Beine hin. So geht sie durch Lustspiele und Schauspiele.

Nur eine einzige Rolle erfüllt sie ganz: die der Mutter. Denn sie hat inzwischen ihren Mann kennengelernt und ihr Kind bekommen. Das kostet sie zwei Jahre.

Die Sache mit dem Mann aber war so: Im letzten Schauspiel-Schuljahr wandte sich der Produktionsleiter Sieber eines Tages an Held und fragte ihn, ob er nicht ein paar Mädchen habe, die sich in einer Gesellschaftsszene einige Mark verdienen wollten. Er brauche da ein paar Kokotten. Hin gingen Grete Mosheim und Marlene Dietrich. Grete hatte kein Glück, Marlene wurde bestellt. Als sie schon längst aus dem Zimmer war, konnte sie das Bild dieses Mannes nicht aus den Augen waschen. „Du“, telefonierte sie an ihre Mutter, „ich bin heute einem Manne begegnet …“ Dann aber setzte sie sich noch in der Nacht hin, nähte sich ein orgiastisches Kokottenkleid aus grünem Brokat und erschien am anderen Morgen damit, die Haare bacchantisch aufgelöst, ein Monokel unter die zarte Braue geklemmt, im Atelier.

Es wurde beim Film wie beim Theater. Die Regisseure witterten ihre Eigenart. Sie konnten sie aber nicht packen. Die scheue, ja oft verkrampfte Verschlossenheit dieser jungen Frau gab sich nicht zu erkennen, spielte sich nicht aus. Und trotzdem wurden Augen und Ohren kritischer Zuschauer aufmerksamer, spürten, wie sich hier ein Mensch zu immer eigeneren Gesetzen durchrang. Der erste wirkliche Erfolg stellte sich ein. Auf dem Theater. In der Marcellus-Schiffer-Revue „Es liegt in der Luft“ stand plötzlich neben der kecken, suggestiven, männlich geistigen, provokant attackierenden Margo Lion – so schwarz gewandet wie sie, mit so riesigem Hut wie sie – ein erstaunlich reizvolles Pendant: die Dietrich, zärtlich und sinnlich und hingegeben. Und sie sangen beide das Chanson von der Freundin – „Wenn die liebe Freundin mit der lieben Freundin …“ Es war ein Duett, in dem der Reiz der einen Frau den der anderen steigerte.

Von da an sprach man im Theater von Marlene Dietrich. Und beim Film von dem Augenblick an, da sie, mit Fritz Kortner als Partner, in der Verfilmung des Brodsehen Romans „Die Frau, nach der man sich sehnt“ jenen gefährlichen Typ spielte, dem zu begegnen oft für den Mann die Begegnung mit dem Tode bedeutet. Man wird den Anfang dieses Films nicht so leicht vergessen. Ein Mann und eine Frau sehen sich auf einer Bahnstation. Es ist die ganze Romantik des Reisens da. Reise ist Wunder, Abenteuer, neue Welt. Geliebte Kolosse die D-Zug-Lokomotiven, Maschinengötter des Schicksals. Züge gleiten aneinander vorbei, Gesichter erkennen sich, neigen einander zu, verlöschen. Nah pocht plötzlich ein fremdes Herz, wie das eigene. Hier waren schon die großen Augen der Dietrich, das vieldeutige Lächeln, die Lockung des Mundes und des leicht sich ringelnden Haares, war schon das Wunder eines Gesichts, in das man hineinfiel wie in einen Abgrund. Es war das Aufleuchten ihrer Persönlichkeit, aber noch kein Durchbruch.

Josef von Sternberg kam von Wien nach Amerika. Dort hat er von der Pike an beim Film gedient, vom Filmpacken bis zur großen Regie. Schmächtig, zwei sehr große dunkle Augen unter dichtem Haarschopf, außerordentlich zierliche, gepflegte Hände. Dieser Mann macht nicht den Eindruck eines Gewaltmenschen. Dabei hatte er es mit dem Gewalttätigsten von der Welt zu tun, mit einer jungen Industrie, die nur den Erfolg gelten ließ und Menschen und Methoden verbrauchte, wie es traf.

Josef von Sternberg sah sich den ganzen Betrieb mit einem gewissen Kopfschütteln an. Er erkannte, dass dieser nur zu bewältigen war, wenn man ihn bis in den letzten Handwerksgriff beherrschte, und handelte danach. Zehn Jahre blieb er namenlos verschwunden und verdiente als Filmschneider durchschnittlich 35 Dollar die Woche. Dann pumpte er sich Geld zusammen und machte den Film „Salvation Hunters“. Der Film rief Kopfschütteln und Begeisterung hervor. Er hat so eine merkwürdige Auffassung vom Leben. Er lässt die Dinge sooft am Schluss nicht eindeutig auslaufen, sondern führt sie nur zu einem Höhepunkt menschlicher Entscheidung und bricht dann ab. Sollen sie sehen, wie sie es sich weiter ausmalen. Sternberg gibt nur die Voraussetzung dazu. Oder er lässt seinen Helden am Schluss gar sterben. Das war dem Happy-End-Gemüt drüben wenigstens bis vor kurzer Zeit unbequem. Die Politik des Optimismus, eine Politik der herrschenden Klasse, hat durch den europäischen Import von materialistischen Ideen, Psycho-Analyse und Wirtschaftskrise unterdessen etwas gelitten. Immerhin verblüffte Sternbergs Arbeit. Einige Stars setzten sich dafür ein, und ihrer Fürsorge war es zu danken, dass die United Artists seine „Salvation Hunters“ (in denen übrigens Georgia Hale, von Chaplin später im „Goldrausch“ herausgebracht, die Hauptrolle spielte) in Vertrieb nahmen. Der Film fiel durch, und Sternberg blieb weiter ein kleiner Regisseur. Schließlich machte er „Unterwelt“. Das Thema schien den Filmproduzenten ein sicherer Reißer. Hier konnte der eigenbrötlerische Sternberg nichts verderben. Er machte aus dem Reißer ein Kunstwerk, aus Bancroft einen genialen Schauspieler. Der Erfolg – Sternberg kriegt sogar einen Zehntausend-Dollarpreis – wiederholt sich bei den herrlichen „Docks von New York“.

Merkwürdig „schmutzige“ Themen für einen so gepflegten Wiener! Er sieht aus, als sei er für leise, von Mozartscher Musik durchtönte Liebesgeschichten prädestiniert. Aber seine Liebe gilt den Instinktmenschen, den Kraftnaturen, den Lebensfressern, der Unterwelt jener Art, die hinaufdrängt in die Oberwelt und voll Leidenschaft und Blut ihre Normengehege eintrampelt.

Eines Tages fährt er nach Berlin. Erich Pommer, der ebenso verantwortungsbewusste wie experi­mentfreudige Produktionsleiter der „Ufa“, der in merkwürdiger harmonischer Mischung Erkennen und Wagemut vereint, will Heinrich Manns ele­mentaren Roman vom „Professor Unrat“ von Sternberg ins Filmische übersetzen lassen.

Für die Rolle der tollen Lola-Lola stehen sie Schlange. Sternberg hat schon die ganze Besetzung, aber noch nicht die Heldin. Für den Kraftmeier und Herzensknicker am Schluss, den Schwergewichtler Mazeppa, möchte er Albers nehmen. So geht er abends ins „Berliner Theater“, wo der spielt. In Georg Kaisers „Zwei Krawatten“. Da tritt gleich am Anfang eine Frau auf, die ein paar englische Worte zu sagen hat. Sternberg horcht auf, fragt: „Wer ist denn das?“ – „Marlene Dietrich“, lautet die Antwort.

Die bestellt am nächsten Tag ein Telefonanruf in die „Ufa“. Alle lächeln dort etwas. Da hat sich ja der Sternberg etwas Schönes ausgesucht. Die ersten Schauspielerinnen Berlins stehen für den Film zur Verfügung. Vor allem eine, die an Charme und Keckheit alles mitbringt, was die „tolle Lola“ verlangt.

Marlene Dietrich ist schrecklich aufgeregt. Eine Probeaufnahme? Ob das nicht doch ein Witz ist? Da kommt der Friseur, schminkt sie etwas zurecht, schon wird sie wieder in den Aufnahmeraum gestoßen. Zufällig sieht sie in einem Spiegel. Was ist das für eine hilflose Maske, was für ein fremdes Gesicht, das ihr daraus entgegenstarrt? Wer ist diese schlechte, starr geschminkte, rasch zurechtondulierte Person?

Nun soll sie auch gleich etwas singen. „Was denn?“
„Irgendwas“, meint Sternberg und fixiert den Elfenbeinknopf seines Spazierstocks.

Und dann stellt sich die aufgeregte Marlene hin und singt – ja, was singt das vollkommen bestürzte Unglückskind? Was fällt ihm in diesem entscheidenden Moment einzig und allein ein?

Sie singt: „Wer wird denn weinen, wenn man auseinandergeht?“

Heiß brennen die Jupiterlampen auf das kalkweiße Antlitz. Das Klavier dröhnt. Der Mann an der Kamera dreht und dreht.

„Fertig.“ Marlene Dietrich wankt mehr davon, als sie geht.

Da ist plötzlich Josef von Sternberg an ihrer Seite, sagt etwas. Was sagt er da? Sie glaubt, sie hört nicht recht. Er sagt: „Sie waren fabelhaft.“ Der Frau steigen Tränen in die Augen: „Ich vertrage alles, Herr von Sternberg. Aber eines finde ich unrecht: dass Sie mich verkohlen.“

Jahrelang hatte man sie herumgestoßen, hatte man ihr diesen Fehler oder jenen vorgehalten, hatte man sie enttäuscht und zurückgestellt. Und jetzt sagt plötzlich dieser nachdenkliche, versonnene Herr noch ganz einfach:

„Ich glaube, Sie werden die Hauptrolle im ‚Blauen Engel’ spielen.“

Dann wurden die Aufnahmen der wesentlichsten Konkurrentinnen gemacht. Alle die erfahrenen Regisseure, Operateure und sonstigen Filmleute, die herumstanden, atmeten hörbar auf. Dieses Aufatmen hieß: „Na, das ist doch etwas ganz anderes: Hier sieht man doch gleich wenigstens wie und wo.“

Die gleiche, ungeteilte Meinung herrschte in dem Raum, in dem dann die Probeaufnahmen gezeigt wurden. Ein Regisseur nach dem andern gab seine Meinung ab. Und da der Film ein Millionenobjekt war, kamen fast alle Leute aus dem großen Filmhaus in den kleinen Vorführungsraum.

Immer von neuem sang Marlene aus der Leinwand, sang die andere. Und immer wieder sagte jeder: „Die andere.“

Als alle gesagt hatten „die andere“, verkündete Josef von Sternberg: „Ich nehme also Marlene Dietrich.“

Erich Pommer gab loyal seine Zustimmung:

„Bitte sehr, Herr von Sternberg, wie Sie wollen. Es ist ja Ihr Film.“

Es wurde Marlenes Film, noch heute unvergessen.

Die Zeit, Hamburg, vom 29.04.1960