Marlenes Sieg in Hannover
Begeisterung ohne Ende / Tücherschwenken und Händeschütteln

Von Wolfgang Schlüter

Schneller als an diesem Abend hat sich gewiss nur selten ein halbvolles Theater mit Begeisterung gefüllt. Als nach zwanzig Minuten musikalischer Vorwärmung Marlene Dietrich im Scheinwerferlicht erschien – ein strahlendes Symbol luxusverbramter Jungbrunnenherrlichkeit – war die prickelnde Erwartung längst zu festlicher Jubelbereitschaft gediehen. Und das blieb so, nein, das steigerte sich während der pausenlos über fünf Viertelstunden hin dargebotenen Solo-Show bis zum brausenden, taschentücherschwenkenden Schlußbeifall, bis zum großen Händeschütteln an der Rampe. Marlenes Sieg war vollständig. Und herzlich freut uns, dass es auch hier ein moralischer Endsieg war über jene, deren feindselig-verklemmte Unbelehrbarkeit aus dem Auftreten dieser großartigen Frau und Künstlerin eine Art Politikum machen wollen.

Ein Märchen betrat die Bühne. Nicht nur, dass die von der weißen, weichen Unwirklichkeit des Federmantels umflossene Glitzereleganz Marlenes von wahrlich märchenhafter Pracht ist, sondern weil dieser Anblick auch an jene Mythe vom Zauberberg denken lässt, der die darin Verweilenden jung erhält, während die Umwelt altert oder schon weggestorben ist. Aber dieses Märchen hier begibt sich vor unseren Augen; es ist eine wahre Geschichte.

Auch ist Marlene nicht die märchenüblichen hundert Jahre fort gewesen, sondern nur dreißig, und sie hat die Zeit wahrhaftig nicht in verzaubert-pausierender Abgeschiedenheit verbracht; aber etwas höchst Wunderbares bleibt es eben doch, wie sich hier ein Kreis schließt, sobald sich ihr alterslos-blondes Haupt dem Mikrophon zuneigt und „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“ hinein singt. (Der rauchig-raue Ton, ohne den man sich dieses „Blaue-Engel“-Lied nicht denken kann, wurde übrigens äußerst effektvoll in der Kontrastwirkung vorbereitet von den vorausgegangenen hell tönenden Trompeterkünsten des vorzüglichen französischen Jazzmusikers Aimé Barelli).

„Und da weiß man nicht, was man sagen soll“, sang Marlene im weiteren, und der über ihren Abend Berichtende fühlt sich fast versucht, dem beizupflichten; jedenfalls weiß er nicht recht, was von all dem kaum Beschreiblichen er in Worte kleiden, wie er die Faszination schriftlich bewahren soll, die Marlene Dietrich in jedem Augenblick verschenkt. Sie scheint auch insofern zwischen oder über den Zeiten zu stehen, als sie die anscheinend zum Aussterben verurteilte große Kunst des vortraglichen Nuancierens mit dem auf Sexhaft-Elementares, auf stimmlich-sinnliche Direktwirkung abzielenden „Ton von heute“ in selbstverständlicher, genialischer Weise verschmilzt.

Marlene singt nicht nur. Sie singt nicht nur in Deutsch (immer noch mit dem goldrichtig-veredelten, ein ganz klein wenig lispelnden Berliner Zungenschlag), in amerikanisch (dieses wiederum in mehreren köstlichen Varianten), in französisch – dazwischen erzählt sie auch ein bisschen von sich, und sie tut das ohne jede Pose, ohne Mache oder Masche. Und unversehens formt sich aus Singen und Erzählen, aus Gang und Geste (wer sonst versieht Liederchen und Chansons am Schluss mit so hübschen, gleichsam hinschenkenden Handbewegungen!) ein anderes, umfassenderes Marlene-Dietrich-Bild, als es auf Grund einzelner Filmrollen im Umlauf ist.

Es ist das Bild einer Frau, die mit ebensoviel komödiantischer Wonne wie innerer Distanz das Charme- und Sexideal mehrerer Jahrzehnte verkörpert, einer Frau, die gescheit und gutherzig ist, einer Berlinerin, die ohne Anstrengung und Persönlichkeitswandlung zur Amerikanerin werden konnte (so große „Welten“ lagen einst nämlich gar nicht dazwischen).

Die leuchtende Grundierung dieses Bildes aber heißt Humor. Es ist ein Humor, der nach- und einsichtigen Gelassenheit, ein Ausdruck des Gerne-Mitspielens im manchmal sehr verrückten, aufs ganze gesehen aber lohnenden Spielbetrieb des Daseins. Ein Abglanz davon liegt selbst dann in der Luft, wenn Marlene uns getragener kommt; wenn sie „Frag‘ nicht, warum ich gehe“ oder gar zwei Strophen des Hobelliedes aus dem „Verschwender“ zum besten gibt, wenn ihr Augenaufschlag unschuldsvoll-naiv wird anstatt verfänglich-vergnüglich. Doch seinen höchsten Triumph erlebt dieser Humor der Distanzierung, wenn ihre betörend konservierte Leiblichkeit bei strafferen musikalischen Rhythmen in eine gewisse schlenkernde Vibration gerät: Mit mehr Sex-Appeal ist „Sexiges“ gewiss niemals parodiert worden. (Ein Lob auch dem Marlene-Begleiter Burt Bacharach!)

Der mit verwandlungskünstlerhafter Fixigkeit vollbrachte Umzug in Frack und Zylinderhut ließ die Zeit dann vollends zurückschnurren, und wenn die stöckchenschwingende Marlene sich mit elastischem Beinschleudern in die Girltruppe einreiht, kann man nur noch mit Goethen ausrufen: „Nun sag mir eins, man soll kein Wunderglauben!“

Nach Willen und Einnahme-Wunschtraum des Veranstalters war dies also ein „großer Gala-Abend“. Im Zuschauerraum war jedoch kaum jemand, der die horrenden Eintrittspreise damit quittiert hätte, dass er sich „in Gala warf“. Fast alle waren in gewohnter, landesüblicher Schlichtheit erschienen. Eine großartige Sache wurde es dennoch: Das Wiedersehen mit Marlene Dietrich gestaltete sich zu einem künstlerischen Fest. Ob es sich nicht doch einmal unter günstigeren Vorzeichen wiederholen ließe, nämlich zu annehmbareren Bedingungen für die Brieftaschen der Besucher?

Man möchte es wünschen. Zu beiderseitiger Freude.

Hannoversche Presse, Hannover, vom 23.05.1960