Von Kopf bis Fuß auf sie eingestellt
Marlene Dietrich wurde in Köln stürmisch gefeiert

Von Helmar Meinel

Zuerst lag zwar die Vermutung nahe, Charly Chaplin oder im günstigsten Folie Max Mauel müsse für sie eingesprungen sein, weil sich auf den Hundertmarkplätzen ganz vorn durchweg Heiterkeitsschaffende von der Karnevalsprominenz über den Meisterjuxer Willy Millowitsch und die Reichsquasseltante Gisela Schlüter bis zur violett­getönten Bundespressechefsgemahlin Frau von Eckardt aufgepolstert hatten. Aber dann kündigte die hölzerne Geisterstimme aus dem Lautsprecher doch an, dass man der schönsten Großmutter seines Lebens teilhaftig werden dürfe. Marlene kam, sang und siegte.

Die faszinierende Frau, die im aktuellen Lexikon von 1958 so wohltuend feminin zwischen dem Dieselmotor und dem Differenzialgetriebe angesiedelt ist, war sogar schon in Köln, als ihre Verehrer immer noch den durch die Praxis der Reklameagenten berechtigten Glauben hatten, sie werde gleich vorfahren. Je deutlicher die Manager erklärten, die Dietrich sei bereits im Hause, umso stärker hofften die Fans, den Star abfangen zu können. Mögen sie nicht traurig von dannen gezogen sein: Auch einem Werbechef kann einmal die Wahrheit entschlüpfen.

Maria Magdalena von Losch (56), genannt Marlene Dietrich, hatte sich heimlich in den Ufa-Palast geschlichen. Sie wollte ihre Ruhe und war nicht einmal geneigt, der Ortspresse das Vergnügen zu gestatten, das sie den Journalisten gewöhnlich zu bereiten pflegt. Dabei hatte man sich in unseren Kreisen so was wie ein märchenhaftes Interview mit einer Wölfin im Nerz vorgestellt:

„Großmütterchen, warum hast du so zarte Haut?“

„Damit du mich schöner sehen kannst!“

„Großmütterchen, warum bist du die Stimme Amerikas?“

„Damit du schlechter über mich schreiben kannst!“

„Großmütterchen, warum hast du feindliche Uniform getragen?“

„Damit du mich besser fressen kannst!“

Aber als sich die französische Kapelle mit zwanzig Minuten Verspätung endlich vom Vierfruchtjazz zum Marlene-Sound hindurchgegeigt hatte und die Dietrich strahlend schön der Erinnerung entstieg, waren ihr mit einem Blick alle Sünden dieser Erde vergeben. „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt!” Damit begann sie, dabei blieb sie, und zwei Stunden lang verwandelten sich die zahlreichen rückwärtigen Dekolletés der Damen im Parkett in jene Rieselfelder, von denen eine Frau heutzutage nur noch träumt, es sei denn, der Ernährer ist gerade zur Kur in Wörishofen. Oder umgekehrt. Denn auch die Männer im Saal zeigten sich durchaus gerührt, und wenn es Eva damals gelungen ist, aus Adam einen Apfeldieb zu machen – Marlene könnte die ganze Obsternte sämtlicher EWG-Länder in Gefahr bringen.

Sie Ist der Vamp. Sie spielt ihn nicht. Der Vamp mit Herz, der Vamp mit Sex. Der Vamp als Volksausgabe, der Vamp in Seide gebunden, der Vamp mit Goldrücken und nicht nur der Rücken. Wenn sie die Augen aufschlug wie ein Buch, das während der Mittagspause durch die Prüfstelle geschlüpft ist.

Wenn sie mit einem Schulterzucken zeigte, dass ihre Enkelinnen auf der Bühne mehr als die übliche Handbreite tiefer unter ihr stehen.

Wenn sie selbst einen verhältnismäßig rüstigen Mittdreißiger unterschwellig zum Großvater machte.

Es gab 40 Vorhänge, brausenden Applaus und stürmische Verehrung für Marlene. In Köln flickte ihr keiner was am teuren Zeug, wie das in ihrer Heimatstadt passierte. Die Kölner empfingen die Berlinerin aus Las Vegas herzlicher als die Berliner, denn der Landesverrat mit den Waffen einer Frau zählt hier nicht zu den Delikten, über die man sich zu Gericht sitzt. Erst recht nicht bei so einer Frau und so einem Abend.

Um sich nachhaltig auf andere Gedanken zu bringen, musste man sich auf der Heimfahrt schon so eines bewährten Mittels wie der Kölner Straßenbahn bedienen.

Neue Ruhr Zeitung, Essen, vom 21.05.1960