Das Wunder der Marlene
Die Dietrich erobert München

Von George Salmony

In München endete am Freitag die west­deutsche Tournee Marlene Dietrichs. Ihr Erfolg war – wie überall – triumphal, der Jubel unbeschreiblich. Die Banausen, die auch hier gegen den Weltstar geschrien und geschrieben hatten, saßen hoffentlich in einem Heimatfilm, in dem der Wildbach geschwätzig murmelnd zu Tal hüpft.

Dabei waren die, die ins Deutsche Theater gekommen waren, gewiss nicht gewillt, sich für Snobpreise und Smokingzwang billig abspeisen, sich blauen (Engels-) Dunst vormachen zu lassen. Die Zeiten der schonungsvollen Sentimentalität, der erinnerungsseligen Genügsamkeit sind vorbei. In so ausgekochten, hyperverwöhnten Vergnügungszentren wie New York und Las Vegas hat es sie nie gegeben, und auch dort bewährte sich die Dietrich neben den besten und teuersten Entertainers der Welt. Es musste also mehr an ihr „dran“ sein als ein Name, eine Erinnerung oder – für die Jüngeren – der Marktwert der Legende.

Um das bestätigt zu finden, musste man Geduld haben. Erst kommt eine ganze Weile lang lauter und greller Jazz und das Gehopse einer puppenäugigen Girltruppe. „Eigentlich ´ne Zumutung“, flüsterte weithin hörbar ein wohlsituierter Herr in der zweiten Reihe seiner Gattin ins Ohr. Dabei war auch er, ohne es recht zu merken, durch das Geglitzer und Getöse ins richtige Stimmungsmilieu versetzt worden, in das der Tabarins und Musichalls, der Nightclubs und Bumslokale, der Heimat von Kunst und Klamauk: show business!

Dann steht sie, von einer heiseren Geisterstimme angesagt, vor dem Mikrophon, und rau und süß und betörend wie am ersten Maientag ihrer Karriere klingt das marlenische Leitmotiv durch den Raum: „Ich bin von Kopf bis Fuß...“. Die Damen orgeln wie wild an ihren Operngläsern: Also, wie sieht sie wirklich aus? Was ist wirklich an dem notorischen Las-Vegas-Kleid? Nun. sie sieht gewiss berückend aus, aber das Wunder der Erscheinung tritt fast zurück hinter dem Wunder der Leistung und dieses hinter dem Wunder der Persönlichkeit. Und alles zusammen ergibt das Wunder der Dietrich. Das hätte man nicht geglaubt, dass das im Tingeltangeltyp jener feschen Lola steckte: der Schmelz und die Kraft der großen Diseuse, das Raffinement und der Esprit der großen Revuediva, und vor allem das Air, die Leute lachen und  weinen zu machen, sie zu rühren und zu kitzeln und um den kleinen Finger zu wickeln.

Erst im sagenhaften Paillettenkleid, mit dem gewaltigen Mantel aus Schwanenflaum. Sie singt die alten Lieder, die großen schwermütigen Kabarett-Elegien von irgendwelchen Traurigkeiten und Treulosigkeiten und die kessen, ordinären Chansonettennummern von Kerlen und Kokolores. Mit viel Berliner Wuppdich. Auch in den scharfen amerikanischen Western-Songs bleibt ein Rest von Zille-Girl.

Im klassischen Revue-Frack trillert und trällert sie als avancierte dritte von links mit den Tournee-Girls. Den Staub, der auf dieser varietehistorischen Standardübung gedrillter Beine und gespitzter Mündchen liegt, pustet sie mit leichter Selbstironie weg... und verweilt dann zu den Zugaben über Zugaben, die das Publikum mit unerbittlicher Begeisterung von ihr fordert. Siegreich und hilflos zugleich steht sie im Tumult dieses Jubels. Dutzende von Malen hebt sich der Vorhang. Friedrich Hollaender wird mit auf die Bühne geholt das „Hobellied“ wird zugegeben, der „Koffer in Berlin“, und noch immer stehen die Leute wie eine Mauer. Die Jugend strebt von der Galerie nach unten und vorn und ruft: „Wiederkommen“. Für sie wurde jetzt eine Erinnerung geboren.

„The Marlene-Dietrich-Show“ – typisch modisch-kosmopolitanische Vergnügungsmixtur, halb Callas, halb Kalanag – rollt weiter um den Erdball, demnächst auch in den Fernen Osten. Sie wird auch die Japaner um den Finger wickeln. Banzai, Marlene – Mythos in Frack und Schwanenpelz.        

Süddeutsche Zeitung, München, vom 30.05.1960