Marlene packt die Koffer aus
Der Dietrich unsentimentale Wiederkehr – Winken und Händeschütteln über die Rampe des Beethovensaals

Von Winfried Wild

Gut drei Viertel der Liederhalle füllten sie, und bis zu 100 Mark zahlten sie, die Stuttgarter, die Deutschlands berühmteste Diseuse wiedersehen oder zum ersten Mal erleben wollten: Marlene Dietrich, die Weltdame, „von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“ und mit „einem Koffer in Berlin“. Diese ihre berühmtesten Schlager rahmen ihr Programm ein, mit dem sie zurzeit durch die Bundesrepublik reist, und in dem sie ihren Koffer voller Jugenderinnerungen auspackt.

Um die Frau ohne Skandale – dieser Titel ist bei Künstlerinnen ihres Genres wirklich ein Ehrentitel – hatte es nach dem Krieg in der Bundesrepublik dennoch manchen Wirbel gegeben; es gab Leute, die ihr übelnahmen, dass sie 1937 Amerikanerin wurde und nach dem Zusammenbruch Deutschlands nicht gleich mit fliegenden Fahnen heim ins Reich kehrte. Aber sie war ja längst ein Star der mondänen Welt geworden, der sich in Las Vegas mit schwindelerregenden Gagen bezahlen ließ. Und wenn sie jetzt ihre deutsche Heimat wiedersieht, so tut sie es mit einer erfreulichen beruflichen Sachlichkeit und biegt damit jedem möglichen Politikum geschickt die Spitze ab. Sie packt den Koffer, den sie noch in Berlin stehen hatte, ohne sentimentale Tränen aus.

Die Stuttgarter, nachdem sie das spannungsfördernde Unterhaltungsprogramm des französischen Jazztrompeters Barelli und seiner Kapelle hinter sich hatten, begrüßten Marlene mit der Herzlichkeit alter Bekannter. In ihrem märchenhaften Las-Vegas-Diamantenkleid und ihrem fast endlosen Hermelinmantel trat sie auf: eine königliche Erscheinung, Königin der Glitzer- und Flimmerwelt. Auch dass sie den linken Arm mit einem Tuch an die Taille gebunden hatte – sie hatte sich bei einem Sturz von der Bühne in Wiesbaden verletzt –, konnte die Würde der Souveränen nicht beeinträchtigen. Im Gegenteil: Die gehemmte Beweglichkeit, das Statuarische passte zu der hoch und schön gewachsenen Frau besonders gut und entspricht ihrer Persönlichkeit. Wenn heutzutage Schlagersternchen mit Gehopse, Gicksen und Krähen originell sein wollen,  so bringen sie noch lange nicht die Wirkung heraus, die Marlene mit einer malerischen Arm- oder auch nur Fingerbewegung und mit dem ruhigen Strömen ihrer berühmten rauchigen Stimme erreicht. Diese gleichsam aus den Schluchten des Herzens dunkel heraufschallende Stimme und der Wuchs der Sängerin sind allerdings allein schon Kapital. Bei Marlene kommt aber noch der Wert der Persönlichkeit hinzu. Ihre Freundschaft mit großen Männern, ihre Lebenskunst auch im Privaten (Großmutter zu werden, hat dem Ruf des einstigen Vamps nicht geschadet, sondern genützt), ihre gesellschaftliche Noblesse – das alles macht die besondere Ausstrahlungskraft dieses Stars aus.

Der mit ruhiger Stimme in seinem Koffer kramende Star holte zuunterst seine Entdeckung für den Film „Der blaue Engel“ durch Josef von Sternberg hervor und sang die Lieder dieser Zeit: „Jonny, wenn du Ga-burtstag hast“, „Peter“, „Ich bin die fesche Lola“, sie zog Lieder aus der ersten Hollywoodzeit hervor, wie das sentimentale „blonde Baby“, Lieder aus Hollywoodfilmen vom flotten Cowboysong bis „Auf der Reeperbahn nachts um halb eins“ aus der „Zeugin der Anklage“, und Erfolge aus den mondänen Vergnügungslokalen der Weltstädte.

Die zweite Hälfte ihres Programms sang Marlene in Frack und Zylinder. Rittlings auf dem Stuhl eine Zigarette rauchend, auf und ab gehend mit einem Handmikrofon, inmitten der Ballettgruppe einen Tanz aufs Parkett legend – so variierte sie das Fesche, Nonchalante, leicht Parodistische, zu dem der einstige Sexvamp gefunden, und das sein Geheimnis eines fortdauernden Erfolges ist. Den angeschlagenen linken Arm hielt die Sängerin stets schonend in der Hosentasche, auch beim Tanzen.

Der Tanz musste wiederholt werden, und dann ließen Beifall und Begeisterungsrufe nicht nach, bis Marlene vier Zugaben gesungen hatte: Valentins Hobellied „Da streiten sich die Leut’ herum“, den sprichwörtlich gewordenen Koffer in Berlin, die fesche Lola noch einmal und „Ich weiß nicht, zu wem ich gehöre, ich bin doch zu schade für einen allein“. Dieses Lied schließt mit einem bezeichnenden Satz für Marlenes Besonderheit: „Ich glaub' ich gehöre nur mir ganz allein.“ Der Star schüttelte über die Rampe die Hände der nach vorn geströmten Leute und winkte bald, hundertmal auf die Galerie, wo das Publikum zurückwinkte. Zwanzig Minuten dauerten die Ovationen. Mit ihrem winkend erhobenen Arm stand die schlanke Marlene Dietrich da wie die amerikanische Freiheitsstatue vor New York – eine Freiheitsstatue luxuriösen Lebensgenusses.

Stuttgarter Nachrichten, Stuttgart, vom 27.05.1960